Der deutsche Schulpreis ging im Jahr 2019 nach Wutöschingen in Baden-Württemberg an die Alemannenschule (ASW). Ausgezeichnet wurde sie für ihr innovatives Konzept, das Schule in Bezug auf Lernen, Räume und die Rollen der Beteiligten neu denkt. Am 12. November 2021 skizzierte Bildungsministerin Dr. Stefanie Hubig auf dem Kongress zur Initiative ‚Schule der Zukunft‘ ein Bildungskonzept, das dem der Alemannenschule sehr nahe kommt. Im Dezember startete der Beteiligungsprozess, in dem eben jene Schulentwicklungselemente in einer Umfrage erhoben wurden. Nichts lag also näher für das Planungsteam des neu entstehenden Gymnasiums Mainz-Mombach, als sich diese Schule ‚live‘ anzusehen, von der wir auch vor der rheinland-pfälzischen Initiative schon gehört hatten und mit der wir bereits in Kontakt standen.
Zu einer ersten Begegnung kam es im Herbst 2021 auf der Schulbaumesse in Hamburg, wo die beiden Hauptreferenten Stephan Ruppaner, Direktor der Alemannenschule, und Rosan Bosch hießen, Autorin von Designing for a Better World Starts at School; ihr Konzept wurde in Wutöschingen weitestgehend umgesetzt und spielt auch eine große Rolle in der Planung des Gebäudes in Mombach. In einem Gespräch mit Herrn Ruppaner wurden Details für einen Besuch verabredet.
Der Weg in den Schwarzwald an die Schweizer Grenze ist weit, und so traten wir die Anreise am Sonntagnachmittag an, als der Winter sich an diesem Aprilwochenende kurz zurückmeldete. Das letzte Stück führte eine Weile über Land, bis wir im beschaulichen Wutöschingen ankamen. Direkt gegenüber dem Schulgelände checkten wir im Landgasthof Ochsen ein. Alles hier schien sehr anders als an unserem zukünftigen Schulstandort. Am Abend traf eine Gruppe Lehrer der Richtsberg-Gesamtschule in Marburg ein, wo wir wenige Wochen zuvor hospitiert hatten. Beim gemeinsamen Abendessen berichteten sie ausgiebig von ihrer mehrjährigen Zusammenarbeit mit der ASW und was uns am nächsten Tag erwarten würde.
Die Alemannenschule rang vor ihrer Umstrukturierung mit ihrem Bestehen, das in ihrer bisherigen Form an sich in Frage stand. Tiefgreifende Veränderungen retteten nicht nur den Schulstandort, sondern brachten eine Schule hervor, die Vorbild für die Bildungslandschaft des 21. Jahrhunderts ist. Wenig erinnert an klassische Schulgebäude mit ihren langen Fluren und Klassenzimmern; das Schulgelände ähnelt einem Campus, dessen Gebäude für die unterschiedlichen Jahrgangsgruppen vielfältige Möglichkeiten bieten, Lernen eigenverantwortlich zu gestalten. Bevor man diese betritt, zieht man aber zuerst seine Hausschuhe an. Alle Kinder und Jugendliche haben eigene Arbeitsplätze, die liebevoll gestaltet sind mit Namensschildern, Freundesbildern und Glücksbringern. In den weitläufigen Fluren sind zahlreiche Kabinen und Nischen, in denen Lernpartner:innen (wie Schüler:innen hier heißen) untereinander emsig diskutieren oder mit ruhiger Ernsthaftigkeit ins Gespräch mit ihren Lernbegleiter:innen (Lehrer:innen) vertieft sind, die ihnen Rückmeldung geben oder Lernziele erarbeiten. Für das rege Treiben ist es überraschend leise, was auch verschiedenen schallhemmenden Baumaßnahmen zu verdanken ist. Nirgendwo sitzen Klassen mit dem Blick auf eine Tafel gerichtet, niemand schnalzt mit dem Finger um die Aufmerksamkeit eines Lehrers; stattdessen sieht man jede in einem Klassenraum erdenkliche Aktivität gleichzeitig stattfinden, da jeder und jede selbst entscheiden kann, welche Arbeitsweise gerade am sinnvollsten oder ob es Zeit für eine Pause ist. Niemand ist irgendwo, wo er oder sie gerade nicht sein will.
Ganzer Stolz der ASW ist das frisch fertiggestellte Oberstufengebäude, das das Lehr- und Lernkonzept architektonisch konsequent umsetzt. Alles hier entspricht eher einem typischen New Work Arbeitsplatz oder einem hippen Co-Working-Space mit seinen Sofas und Kronleuchtern und Séparées. Diese schöne neue Bildungswelt existiert nicht nur in den Köpfen von träumenden Pädagogen und praxisfernen Besserwissern, sondern in einem kleinen Dorf im Schwarzwald, das alles anders macht und das erfolgreich. Die externen Lehrkräfte benachbarter Gymnasien, die für die Leistungsnachweise der Oberstufe verantwortlich sind, haben keine Wahl als hervorragende Noten zu vergeben. Und an diesem Erfolg ist nicht nur das Kollegium mit seinem kantigen Schulleiter beteiligt, sondern auch die Behörden, die dies ermöglicht haben, das Umland mit seinen Vereinen und Bauernhöfen, das Lernen an anderen Orten ermöglicht und die Schülerschaft mit ihren Familien, die sich auf dieses Experiment eingelassen haben.
Aber auch in Wutöschingen herrscht keine Utopie. Es gibt Konflikte und Schulfrust, Misserfolge und Streit, aber auch Kooperation, Bemühen und Lösungen. Nur eins gibt es nicht: Ausreden. Hier ist jeder für seinen eigenen Erfolg verantwortlich. Ohne zu wollen, geht Schule nicht, egal ob innovativ oder auf die althergebrachte Weise. Was macht der Schulleiter mit Schülern, die diese Chance nicht nutzen? „Wir geben ihnen einen Platz im Warmen, Luft zum Atmen und vor allem Liebe.“ Was man daraus macht, ist jedem selbst überlassen, aber jeder wird dabei angemessen begleitet.